Beitrag von Marina Bereri und Tina Kühn
• Lage: Friedrichshain-Kreuzberg, Kreuzberg, Südliche Friedrichstadt, Block 608, Kleinbeerenstraße 13–19, Möckernstraße 124–127, Hallesches Ufer 62–66
• Die Realisierung entstand auf der Basis und Weiterentwicklung der städtebaulichen Zielsetzungen der IBA, ist jedoch kein Projekt der IBA
• Bauzeit: 1991–95
• Bauherr: Land Berlin, Senatsverwaltung für Justiz
• Funktion: Öffentliche Verwaltung
• Architekten: Oswald Mathias Ungers, Karl-Heinz Winkens
1. Städtebauliche Ausgangssituation unmittelbar vor den IBA-Planungen
Zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die südliche Friedrichstadt fast vollständig zerstört. Darunter waren auch die am südlichen Rand der Friedrichstadt gelegenen Gewerbe- und Wohnbauten sowie Bereiche des damaligen Amtsgerichtes am Halleschen Ufer. Der unzerstörte Gebäudeteil an der Kleinbeerenstraße/Möckernstraße wurde schon 1945 wieder vom Amtsgericht Kreuzberg genutzt. Das Gebäude stand zur Zeit der IBA-Planungen nicht unter Denkmalschutz, wurde aber als denkmalwürdig betrachtet. Die durch die Zerstörung entstandene Brachfläche wurde bis 1990 als Parkplatzfläche benutzt und war mit Spontanvegetation und diversen Baumbeständen bewachsen. Erst nach Ende der IBA 1984/87 wurde der Wiederaufbau des Blockes 608 in Angriff genommen. Städtebauliche Voraussetzung war der Flächennutzungsplan von 1984, der an diesem Standort eine Verwaltungsfläche aufwies, sowie der Bebauungsplan von 1971. Das Trapezförmige Grundstück zwischen der Möckernstraße im Westen, der Kleinbeerenstraße im Norden, dem Postcheckamt im Osten und dem Landwehrkanal am Halleschen Ufer im Süden hat eine Größe von 9.870 m².
2. Historische Struktur des Bereiches, der ggfs. für die „kritische Rekonstruktion“ oder die „Stadtreparatur“ zu Grunde gelegt wurde
Die Bebauung am südlichen Rand der Friedrichstadt war vor der Zerstörung 1945 geprägt durch feste Blockstrukturen. Charakteristisch dafür waren eine Blockrandbebauung, Innenhöfe und angepasste Traufhöhen. Auf dem Gelände des Blocks 608 war ab 1882 das Amtsgericht Berlin II ansässig, welches 1915–21 einen in Teilen bis heute erhaltenen Neubau errichtete. Die Architekten Erich Meffert und Ernst Petersen planten ein dreigeschossiges, mehrflügeliges Gebäude mit Walmdach und Putzfassade.
3. Demonstrationsziel und Planungsgeschichte
Der Block 608 war schon seit jeher als Justizstandort ausgewiesen und sollte daher in dieser Nutzung ausgedehnt werden. Ziel der Bebauung war eine städtebauliche Reparatur des Blocks durch Schließung des Blockrandes sowie der Beibehaltung der ost-westlichen Grünverbindung an der Kleinbeerenstraße. Sinnvoll sollte ein Neubau als Solitärblock das Bestandsgebäude ergänzen und damit einen begrünten Innenhof umschließen.
Grundlage für die Planung ist die städtebauliche Studie für die Friedrichstadt von Oswald Mathias Ungers (1926–2007) und Bernd Faskel (geborden 1943) 1981. In den Jahren 1988/89 wurde ein engerer Wettbewerb mit sieben eingeladenen Architekten durchgeführt. Die Jury beurteilte den Siegerentwurf von Ungers insofern, dass sich der Bau dem Postcheckamt-Hochhaus wohltuend zurückhaltend unterordnet. Die Realisierung von 1990–95 entstand auf der Basis und Weiterentwicklung der städtebaulichen Zielsetzungen der IBA, ist jedoch kein Projekt der IBA.
4. Städtebauliche und architektonische Lösung zur Erreichung des Demonstrationszieles
Aufgrund eines Baustopps zur Wiedervereinigung Deutschlands zwischen Januar 1991 und Februar 1993 wurde das Gebäude erst 1995 fertiggestellt. Der Architekt Ungers realisierte zwischen den Jahren 1990 und 1995 mehrere fünfgeschossige, schmale Baukörper, die zusammen mit dem bestehenden Amtsgericht einen Innenhof bilden. Damit wurde das einstige Raster der südlichen Friedrichstadt wieder geschlossen. Zur Integration des bestehenden Baukörpers schließen die einzelnen Flügel an den Altbau an. So befindet sich im Nordosten des Blocks eine L-förmige Erweiterung des Amtsgerichtes. An der Möckernstraße sowie am Halleschen Ufer im südlichen Bereich realisiert der Architekt einen dreiflügeligen Bau, der im Mittelflügel einen sechsgeschossigen Turm als Blickfang besitzt.
Das Gebäude erscheint als einzelner Solitär und ist doch dem Bestandsgebäude in Blockrandbebauung und Weiterführung der Traufhöhen angepasst. Einerseits fügen sich die Gebäudeteile als Blockrand an die umliegenden Straßen an, andererseits ist der Turm aus dem Raster gedreht und orientiert sich in seinem Winkel am Bestandsgebäude. Die Hauptfassaden des Baus sind nach Süden und nach Osten orientiert. Wobei sich die Fassadengestaltung rational gestaltet. Die Lochfassaden des Stahlskelettbaus sind mit Platten aus Muschelkalkstein verkleidet, wobei der Turmbau als Kontrast zu den üblichen Fassaden einen dunkleren Muschelkalkstein aufweist. Die Dachflächen sind extensiv begrünt und teilweise zu einer Dachterrasse ausgebaut. Im Inneren des Gebäudes dominiert eine klare Mittelerschließung, wobei sich in den Eckpunkten die Treppenhäuser befinden. In der Fassadengestaltung heben sich die Treppenhäuser durch große, bündig in der Fassade liegende Stahl-Glasfassaden hervor.
Auch die Gestaltung des Turmbaus, dem städtebaulich prägenden Element, ist in dieser Form gestaltet, um die darin befindlichen, öffentlichen Funktionen wie Verhandlungssäle und Cafeteria in 5. Geschoss darzustellen. Die Freifläche vor dem Mittelflügel und Solitär dient als öffentliche Freifläche und wird durch das Kunstwerk des amerikanischen Künstlers Sol le Witt bespielt. Der weiße Metallrohrkubus nimmt das quadratische Grundraster des Gebäudes auf und passt sich somit in die Umgebung ein. In direkter Nachbarschaft, an der Südwestlichen Blockecke, befindet sich das eingeschossige Kinderhaus, welches als Einzelkörper in ein bestehendes Robinenwäldchen gesetzt ist. Der Innenhof ist halböffentlich nutzbar. Auch der restliche Baumbestand konnte aufgrund der Lage des Gebäudes fast vollständig erhalten werden. Wichtig war zudem die geringe Versiegelung der Freiflächen.
5. Bau oder Stadtraum in seiner ursprünglichen und heutigen Erscheinung
Der Neubau des Familiengerichtes sowie die Erweiterung des Amtsgerichtes ist seit der Fertigstellung im Jahr 1995 nicht verändert worden. Derzeit sind lediglich Bauarbeiten zur Erneuerung der Innenhofgestaltung im Gange. Das Gebäude von Ungers hat sich neben dem Postcheckamt zu einem städtebaulichen Höhepunkt am Halleschen Ufer entwickelt.
Quellen:
• Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, Bauaktenkammer, Altakte Neubau Fam. Gericht, Erweiterung AG T–K, Band 7.
• Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, Bauaktenkammer, Altakte Vorgespräche Neubau Fam. Gericht, Erweiterung AG T–K, Band 8.
• Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, Bauaktenkammer, Altakte Neubau Fam. Gericht, Erweiterung AG T–K, Band 9.
• Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, Bauaktenkammer, Altakte Neubau Fam. Gericht, Erweiterung AG T–K, Band 10.
• Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, Bauaktenkammer, Altakte Neubau Fam. Gericht, Erweiterung AG T–K, Band 11.
• Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, Bauaktenkammer, Altakte Neubau Fam. Gericht, Stellungnahme FAfA, Band 12.
• Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, Bauaktenkammer, Altakte Neubau Fam. Gericht, 2 Stellungnahmen FAfA /Tief, Band 13.
• Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, Bauaktenkammer, Altakte Neubau Familiengericht und Erweiterung des Amtsgerichtes, Gesuch, Beschreibung, Schemen und Zeichnungen.
• Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, Bauaktenkammer, Altakte Neubau Familiengericht und Erweiterung des Amtsgerichtes, Gesuch, Zeichnungen.
• Winkens K.-H.: Familiengericht in Berlin-Kreuzberg. In: Bauwelt, 1995, Band 13, Seite 672–673.
• Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen Berlin: Internationale Bauausstellung Berlin 1987. Projektübersicht, Berlin 1991.
• Schäche, Wolfgang: Architekturführer Berlin, Berlin 2001.
• Rave, Rolf: Bauten seit 1980 in Berlin. Ein Führer von 400 Bauten in Berlin von 1980 bis heute, Berlin 2005.
• Denkmaldatenbank Berlin, Erweiterungsbau des Lands- und Amtsgerichtes II.