Paradigmenwechsel im Städtebau

Beitrag von Anna Loffing und Julian Wickert

Für das Verständnis der heutigen städtebaulichen Struktur Berlins ist ein Überblick über die jüngere Entwicklung der Stadt unumgänglich. Seit den 60er Jahren, die vorwiegend durch die Vorstellung einer autogerechten Stadt und dem Bauen an der Peripherie geprägt waren, über die Protestbewegung der 70er und 80er Jahre, bis zu der Herausbildung von Leitbildern wie behutsame Stadterneuerung und kritische Rekonstruktion, wie die IBA sie thematisiert hat, lassen sich einige Wendepunkte in der Entwicklung des Städtebaus herausarbeiten, die die Etappen eines grundlegenden Paradigmenwechsels darstellen.

Grundlegende Fragen, die sich in diesem Kontext stellen, lauten beispielsweise: Welche Leitbilder waren für die verschiedenen Phasen der städtebaulichen Entwicklung in West-Deutschland und insbesondere West-Berlin prägend? Auf welche Weise sind neue Ansätze wie erweiterte Partizipationsmöglichkeiten und ein zunehmendes ökologisches Bewusstsein in die Grundsätze der IBA eingeflossen? Wie hat sich der Städtebau nach der IBA in West-Berlin entwickelt? Welchen Bedeutungswandel haben Begriffe wie „kritische Rekonstruktion“ in den 90er Jahren erfahren?

In den 60er Jahren bestimmten Nüchternheit, Einheitlichkeit und klare Formen das Bild der Städte ebenso wie Großprojekte, autogerechter Stadtumbau und die Entstehung von Trabantenstädten an der Peripherie. Während auf der einen Seite der soziale Auftrag beim Bauen im Vordergrund stehen sollte, zeigte sich in der Praxis häufig das Gegenteil, wenn Flächensanierung – der komplette Abriss ganzer Altbauviertel – zu ethnischer und sozialer Segregation und Verdrängung bestimmter Gruppen führte. Kahlschlagsanierung und massive Wohnungsnot führten Anfang der 80er Jahre zu einer breiten Protestbewegung besonders in West-Berlin, die sich in den „Instandbesetzungen“ manifestierte. Die besetzten Häuser boten ein „Experimentierfeld für die Erprobung neuer Instrumente der Stadterneuerung“ (Holm 2010) und in selbstorganisierter Handarbeit wurde schrittweise die bestehende Struktur saniert.

Der Städtebau suchte nun nach praktischen Antworten auf drängende soziale Fragen, wie die Versorgung mit bezahlbarem Wohnraum und sozialer Infrastruktur. Dabei rückte unter der Überschrift „behutsame Stadterneuerung“ der Mensch in den Mittelpunkt und statt technokratischer Planung sollten nun ganzheitliche Ansätze entwickelt werden. Ästhetisch ging es um eine Abgrenzung zur Moderne. Wichtige Themen wie die Wiedergewinnung der Innenstadt als Wohnraum und die Aufhebung der Funktionstrennung wurden von der IBA aufgegriffen und weitergedacht. Dabei war es ihr erklärtes Ziel, die Sicherung von baulichem Bestand und gewachsener sozialer Struktur auch mit einem ökologischen Bewusstsein zu verbinden. In den „12 Grundsätzen für die Stadterneuerung“ der IBA wird die neue Zielrichtung deutlich. Wichtige Punkte sind die Orientierung an einer langfristigen Entwicklung, die umfassende Beteiligung aller Betroffenen, feste Finanzzusagen und z.B. die Ermöglichen neuer Wohnformen durch eine andere Grundrissgestaltung. Auch der öffentliche Raum (Plätze, Grünanlagen und Verkehr) wurden in die Planung miteinbezogen. Diese Denkansätze sollten jedoch nicht als starre Vorgaben verstanden werden. Vielmehr ging es um eine stete Weiterentwicklung und Anpassung an die aktuellen Bedürfnisse.

Nach Abschluss der Präsentationsphase der IBA sollte die neugegründete S.T.E.R.N. GmbH den Gedanken der behutsamen Stadterneuerung weitertragen. Auch wurde dieser in das „Planwerk Innenstadt“ des Senatsbaudirektors Stimmann aufgenommen. Der Ansatz der kritischen Rekonstruktion wurde jetzt jedoch verkürzend nur noch als ästhetisches Leitbild begriffen, bei dem das Straßenbild der Vorkriegszeit wieder hergestellt werden sollte.

Worin bestand nun der oft genannte Paradigmenwechsel?

Das neue Denken drückt sich zunächst einmal in der Erkenntnis aus, dass nur kleinteilige Planung unter Beteiligung aller betroffenen Gruppen den Erfordernissen der Zeit gerecht werden können. Zudem gewann der Innenstadtbereich zunehmend an Bedeutung und es kam zu der zentralen Auseinandersetzung mit einem ökologischen Umbau der Stadt
(einhergehend mit der Abkehr von der Idee der autogerechten Stadt) und der Einheit der Funktionen. Erhalt statt Abriss war das neue Paradigma, dass sich in dem Begriff der „Stadtreparatur“ widerspiegelt. Gleichzeitig ging es um eine Neudefinition von Architektur und Städtebau und um den Konflikt zwischen künstlerisch-ästhetischem Anspruch und Kleihues´ These „Architektur ist Sozialarbeit“. Die Grundsätze der IBA wirken wie oben beschrieben bis heute im Verständnis von Städtebaupolitik nach – auch wenn diese wie beim Stichpunkt der kritischen Rekonstruktion in den verschiedenen Phasen unter einem anderen Vorzeichen stehen.

Weiterführende Literatur

Autzen, Rainer, u.a.: Erneuerungsgebiete der Zukunft. In: Idee Prozess Ergebnis – Die Reparatur und Rekonstruktion der Stadt. Hrsg. von Senator für Bau- und Wohnungswesen Berlin 1984, S. 73-79.

Bodenschatz, Harald / Heise, Volker / Korfmacher, Jochen: Schluss mit der Zerstörung? Stadterneuerung und städtische Opposition in West-Berlin, Amsterdam und London. Giessen 1983.

Bodenschatz, Harald: Kultobjekt Märkisches Viertel. In: Jacob, Brigitte / Schäche, Wolfgang (Hrsg.): 40 Jahre Märkisches Viertel. Geschichte und Gegenwart einer Großsiedlung. Berlin 2004, S.12-31.
Bodenschatz, Harald: Platz frei für das neue Berlin! Publikation des Institut für Stadt- und Regionalplanung der TU Berlin. Berlin 1987.

Hämer, Hardt-Waltherr: Die Kunst der Proportionen. In: Idee Prozess Ergebnis – Die Reparatur und Rekonstruktion der Stadt. Hrsg. von Senator für Bau- und Wohnungswesen Berlin 1984, S.13-19.

Häußermann, Hartmut u.a.: Stadtpolitik; Bundeszentrale für politische Bildung; Bonn 2008.

Hennecke, Stefanie: Die Kritische Rekonstruktion als Leitbild. Stadtentwicklungspolitik in Berlin zwischen 1991 und 1999. Verlag Dr. Kovac , Hamburg: 2010.

Lampugnani, Vittrio Magnago: Die Stadt im 20. Jahrhundert – Visionen, Entwürfe, Gebautes; Teil II; Verlag Klaus Wagenbach; Berlin: 2010.

Planwerk Innenstadt Berlin – Eine Provokation. Herausgeber: Architektenkammer Berlin; Berlin: 1997.

Posener, Julius: Stadtreparatur-Weltreparatur. In: Idee Prozess Ergebnis – Die Reparatur und Rekonstruktion der Stadt. Hrsg. von Senator für Bau- und Wohnungswesen Berlin 1984, Berlin 1984, S.48-51.

Sack, Manfred: Fragen, informieren, die Angst nehmen, Vertrauen gewinnen. In: Idee Prozess Ergebnis – Die Reparatur und Rekonstruktion der Stadt. Hrsg. von Senator für Bau- und Wohnungswesen Berlin 1984, Berlin 1984, S.39-43.

Holm, Andrej; Kuhn, Armin: Häuserkampf und Stadterneuerung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/2010, S. 107-115; online abrufbar: http://gentrificationblog.wordpress.com/2010/03/19/berlin-hauserkampf-und-stadterneuerung/, Zugriff am 16.11.2010.