Selbstbauterrassen/Wohnturm

Selbstbauterrassen/WohnturmBeitrag von Marina Bereri und Tina Kühn

• Lage: Friedrichshain-Kreuzberg, Kreuzberg, Südliche Friedrichstadt, Block 9, Wilhelmstraße 119–121
• Bauzeit: 1987–88 (Terrassen und Turmhaus), 1990–92 (Spielplatz)
• Bauherr: H. Klammt AG, IBA (Eigentümer)
• Funktion: Sozialer Mietwohnungsbau
• Architekten: Dietrich von Beulwitz (Terrassen), Pietro Derossi und Klaus Kammann (Turmhaus), Jasper Halfmann und Klaus Zillich (Spielplatz)

1. Städtebauliche Ausgangssituation unmittelbar vor den IBA-Planungen
Im Zweiten Weltkrieg wurde die südliche Friedrichstadt fast vollständig zerstört. Übrig blieb eine zerstörte Stadtstruktur, die nur noch in ihren Grundzügen an die vorherige Situation erinnerte. Der Block 9, der sich zwischen Stresemannstraße im Westen, Wilhelmstraße im Osten, Anhalter Straße im Norden und der Hedemannstraße im Süden erstreckt, war durch große Brachflächen geprägt. In der Mitte des Blocks dominierte die große Brandwand eines ehemaligen Seitenflügels eines Gründerzeitbaus.

2. Historische Struktur des Bereiches, der ggfs. für die „kritische Rekonstruktion“ oder die „Stadtreparatur“ zu Grunde gelegt wurde
Die Bebauung am südlichen Rand der Friedrichstadt war vor der Zerstörung im Jahr 1945 geprägt durch feste Blockstrukturen. Charakteristisch dafür waren eine Blockrandbebauung, Innenhöfe und angepasste Traufhöhen. Genutzt wurde das gesamte Gebiet durch eine Mischung aus Wohnen und Gewerbe. So befand sich auf dem Block 9 hinter der großen Brandwand eine Druckerei.

3. Demonstrationsziel und Planungsgeschichte
Ein neuartiges Konzept im Mietwohnungsbau war die Mithilfe der Bewohner bei der Planung und beim Bau. Ziel war es, dadurch Kosten zu reduzieren und gleichzeitig die Identifikation der Bewohner mit dem Quartier zu stärken. Das Projekt sollte in das in der südlichen Friedrichstadt vorherrschende Blockkonzept eingearbeitet werden und als Blickpunkt an der Straßenecke einen Turm ausbilden. Vor der geplanten Wohnbebauung galt es einen Kinderspielplatz zu entwerfen.

Den 1981 ausgeschriebenen internationalen, engeren Wettbewerb „Südliche Friedrichstadt – Wilhelmstraße“ gewann die spanische Architektengruppe C2. 1982/83 verfasst die IBA ein Gutachten zur Genehmigungsfähigkeit des Entwurfes. Zudem wurde der Flächennutzungsplan geändert und die Anlegung einer neuen Stichstraße im Block 9 bewilligt. Ein Jahr später folgte der Entwurf für den Spielplatz. Der Bau der Selbstbauterrassen und des Wohnturmes begann Ende 1988 und wurde bereits ein Jahr später beendet. Der Spielplatz ist erst vier Jahre später fertiggestellt worden.

Ansicht von Südosten, Zustand Dezember 2011; Foto: Tina Kühn
Ansicht von Südosten, Zustand Dezember 2011; Foto: Tina Kühn

4. Städtebauliche und architektonische Lösung zur Erreichung des Demonstrationszieles
In der südlichen Friedrichstadt wurden in der Zeit der IBA-Planungen drei Turmhochhäuser errichtet. Das Wohngebäude an der Ecke Wilhelmstraße/Anhalter Straße, der Atelierturm in der Charlottenstraße und das 12-geschossige Wohnhaus im Block 9 wurden neue Orientierungspunkte im Quartier.

Das von dem Turiner Architekten Pietro Derossi (geboren 1933) und seinem Berliner Kontaktarchitekten Klaus Kammann (Lebensdaten unbekannt) erbaute Gebäude besteht aus zwei Teilen. Bis in das 6. Geschoss, welches durch ein Kranzgesims abgeschlossen wird, ist die Fassade in Sichtmauerwerk gestaltet. Darüber ist der Turm in Teilen verputzt, wobei halbrunde Balkone und Loggien den Turm dynamisch erscheinen lassen. Das den Turm nach oben abschließende Zeltdach ist in der Mitte aufgebrochen und mit einer verspielten Skulptur geschmückt. Im Inneren befinden sich 11 Wohnungen und zwei Läden.

Wohnturm Südfassade, Zustand Dezember 2011; Foto: Tina Kühn
Wohnturm Südfassade, Zustand Dezember 2011; Foto: Tina Kühn

Neben dem Turmhochhaus erfolgt über eine neu angelegte Stichstraße die Erschließung der Selbstbauterrassen, die von dem Architekten Dietrich von Beulwitz (Lebensdaten unbekannt) entworfen wurden. Die drei gleich gestalteten Terrassenhäuser, die sich an der langen Brandwand eines Bestandsgebäudes aneinander reihen, folgen der Blockidee eines Seitenflügels und sind insgesamt 120 m lang. Die in Stahlbeton-Skelettbauweise errichteten Gebäude sind 5-geschossig und besitzen jeweils vor den Wohnungen bis zu 45 m² große Südterrassen. Diese können jeweils als Garten, Wohnraum oder Wintergarten genutzt werden. Die Konstruktion bietet offene, fast stützenfreie Flächen und eröffnet den Bewohnern verschiedenste Ausbauvarianten. Während die tiefen Erdgeschosse und die obersten Geschosse für Gewerbe geeignet sind, erstrecken sich in den dazwischen liegenden Geschossen ein- und zweigeschossige Wohnungen in unterschiedlichen Größen.

Insgesamt bieten die Selbstbauterrassen 30 Wohnungen im Selbst- und Weiterbauprinzip an. Wobei das Haus 3 vom Bauherrn fast vollständig ausgebaut fertiggestellt worden ist. Beim Haus 1 dagegen wurden die Bewohner mit geringen Eigenleistungen beim Bau hinzugezogen. Das Haus 2 war das Gebäude mit den maximalsten Eigenleistungen, welche unter fachkundiger Aufsicht erfolgten. So sind die Selbstbauterrassen nie vollendet, sondern können stetig ergänzt oder umgebaut werden. Den drei Häusern sind jeweils Spielplätze vorgelagert, wobei ein weiterer, großer Spielplatz mit einer Fläche von 2.500 m² 1992 fertig gestellt wurde. Jasper Halfmann und Klaus Zillich entwarfen hier, wie auch an einigen anderen Standorten der IBA in der südlichen Friedrichstadt, die Grünflächen.

5. Bau oder Stadtraum in seiner ursprünglichen und heutigen Erscheinung
Die Selbstbauterrassen und der Wohnturm präsentieren sich heute in ihrer ursprünglichen Erscheinung. Das Prinzip des Weiterbaus durch die Bewohner erscheint weiterhin realisierbar, denn an vielen Terrassen sind noch Ausbaumöglichkeiten vorhanden.

Südansicht, Zustand Dezember 2011; Foto: Tina Kühn
Südansicht, Zustand Dezember 2011; Foto: Tina Kühn
Freifläche mit Spielplatz, Zustand Dezember 2011; Foto: Tina Kühn
Freifläche mit Spielplatz, Zustand Dezember 2011; Foto: Tina Kühn

Quellen:

• Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, Bauaktenkammer, Altakte Wilhelmstraße 119–121, Bauanträge und Baugenehmigung, Band 1.

• Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, Bauaktenkammer, Altakte Wilhelmstraße 119–121, Bauvorlagen, Bauzeichnungen und Baugenehmigung, Band 2.

• Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, Bauaktenkammer, Altakte Wilhelmstraße 119–121, Bauüberwachung, Bauabnahme, Abnahmeschein, Band 3.

• Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, Bauaktenkammer, Altakte Wilhelmstraße 119–121, Terrassenhäuser 1–3, Fassadenelementepläne, Band 15.

• Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, Bauaktenkammer, Altakte Wilhelmstraße 119–121A, Band 18.

• Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, Bauaktenkammer, Altakte Wilhelmstraße 119–121A, NÄ-Autohaus in Friseurbetrieb, Errichtung von Müllstandsflächen mit Umzäunung, Band 19.

• Beulwitz, Dietrich von: Selbstbauterrassen in Berlin-Kreuzberg. In Bauwelt, 1989, Band 23, Seite 1060–1065.

• Mühlenstein, Erwin: Organisierter Selbstbau auf der Etage. In Archithese, 1987, Band 17, Seite 15-21.

• A+U Extra Edition, International Building Exhibition Berlin 1987, 1987, Band 1.

• Beulwitz, Dietrich von: Mitten in Kreuzberg. Selbstbauterrassen. In Architektur (Berlin) 1991, Nr. 8, Seite 14–19.

• Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen Berlin: Internationale Bauausstellung Berlin 1987. Projektübersicht, Berlin 1991.

• Schäche, Wolfgang: Architekturführer Berlin, Berlin 2001.

• Rave, Rolf: Bauten seit 1980 in Berlin. Ein Führer von 400 Bauten in Berlin von 1980 bis heute, Berlin 2005.

Quellen aus dem Landesarchiv:

• Rep. 168_IBA, Nr. 1467: Entwurfsseminare 1+2, Entwurfsseminar für Block 9.

• Rep. 168_IBA, Nr. 1468: Pläne von Beulwitz (Selbstbauterrassen) und Derossi (Wohnturm).

• Rep. 168_IBA, Nr. 1469: Selbsthilfekonzept, Katalog der Selbsthilfe.

• B Rep. 168_IBA, Nr. 1470: Bauherrenwettbewerb, Durchführung, Aufstellung aller Bewerber für Vermietung der Selbstbauwohnungen.

• B Rep. 168_IBA, Nr. 1471: Block 9 Allgemein, Projektbeschreibung, Schriftverkehr, Ökologie, Veröffentlichung, Pläne, Finanz, Träger.

• B Rep. 168_IBA, Nr. 1472: Block 9 Allgemein (Zwischenrechnungen, Werkverträge, Lastenberechnung, Pläne).

• B Rep. 168_IBA, Nr. 1473: Pläne von Derossi (Wohnturm), Nutzungsberechnung, Feinprogramm für einen Wohnturm und ein Terrassenhaus, Feinprogramm für einen Spielplatz, Pläne von Beulwitz (Selbstbauterrassen).

• B Rep. 168_IBA, Nr. 1474: Pläne von Derossi (Wohnturm).

•  B Rep. 168_IBA, Nr. 1475: Pläne aktuell (Wohnhof Wilhemstr. 109–113, Wohnturm Wilhemstr. 119–121, Anhalterstr. 10–12).

Eingangsbereich, Zustand Dezember 2011; Foto: Tina Kühn
Eingangsbereich, Zustand Dezember 2011; Foto: Tina Kühn
Ausschnitt Fassade, Zustand Dezember 2011; Foto: Tina Kühn
Ausschnitt Fassade, Zustand Dezember 2011; Foto: Tina Kühn
Wohnturm Nordfassade, Zustand Dezember 2011; Foto: Tina Kühn
Wohnturm Nordfassade, Zustand Dezember 2011; Foto: Tina Kühn
Selbstbauterrassen • Wilhelmstraße 120/121 • Dietrich von Beulwitz • Block 9 • Zustand Juli 2012 • Foto: Gunnar Klack
Selbstbauterrassen, Dietrich von Beulwitz, Zustand Juli 2012; Foto: Gunnar Klack
Wohnturm • Wilhelmstraße 119 • Pietro Derossi • Block 9 • Zustand Juli 2012 • Foto: Gunnar Klack
Wohnturm, Pietro Derossi, Zustand Juli 2012; Foto: Gunnar Klack