Wiederherstellung Platzrandbebauung Prager Platz

Wiederherstellung Platzrandbebauung Prager PlatzBeitrag von Michael Grass

• Lage: Prager Platz, Berlin-Wilmersdorf
• Städtebauliches Konzept: Gottfried Böhm
• Architekten: Gottfried Böhm, Rob Krier, Carlo Aymonino
• Bauzeitraum: 1976 und 1979–2002


Zusammenfassung/Kurzbeschreibung

Das Vorhaben der Wiederherstellung der Platzrandbebauung am stark kriegszerstörten Prager Platz darf als Musterprojekt zur Internationalen Bauaustellung 1984/87 gelten. In keinem anderen städtischen Raum, der während der IBA ‘87 bebaut wurde, tritt das Konzept der Kritischen Rekonstruktion so augenscheinlich zu Tage. Am Prager Platz wurde 1976 das Versuchsprojekt „Modelle für eine Stadt“ durchgeführt. Diese von der Bauausstellung Berlin GmbH durchgeführte Untersuchung bildete die Initialzündung zur IBA ‘87. Mit dem Modellprojekt wurden die Möglichkeiten und Ansätze, die Ansprüche und Zieleder InternationalenBauaustellung 1984/87 erstmals formuliert.

Damit ist der Prager Platz aus stadtbaugeschichtlicher Sicht ein wichtiges Zeugnis. Die Bebauung versammelt mit Gottfried Böhm, Rob Krier und Carlo Aymonino drei der namhaftesten Architekten der Postmoderne. Trotz individueller Formgebung der einzelnen Gebäude werden diese durch ein übergeordnetes städtebauliches Gestaltungskonzept zusammengehalten. Die architektonische Einheit der postmodernen Planung wird in der erst 2002 fertiggestellten „Prager Passage“ nicht gestört. Diese Bebauung ordnet sich der städtebaulichen und architektonischen Planung von Gottfried Böhm unter, greift Formen und Gestaltung der Böhm‘schen Entwürfe auf. Der Prager Platz vermittelt ein architektonisch und städtebaulich bedeutendes Bild der postmodernen Architektur der späteren 1980er Jahre. Die Art der Übereinkunft individueller künstlerischer Ansprüche und die Umsetzung eines gemeinsamen städtebaulichen Konzepts an einem prominenten und historisch bedeutsamen Stadtraum sucht im Rahmen der Berliner Architektur sowie der IBA-Projekte allgemein seinesgleichen.

Wohn- und Geschäftshaus Prager Straße 11/Motzstraße 90–94, Rob Krier, Zustand September 2011; Foto: Michael Grass
Wohn- und Geschäftshaus Prager Straße 11/Motzstraße 90–94, Rob Krier, Zustand September 2011; Foto: Michael Grass

Städtebauliche Entwicklung/Stadtbaugeschichtliche Bedeutung
Der Prager Platz ist ein historisch sowie städtebaulich wichtiger Ort. Seine Anlage fällt in die Zeit der Verstädterung der Berliner Randbezirke in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Erschließung des stark ländlich geprägten Raums um das Rittergut Wilmersdorf begann mit der Straßen und Bebauungsplanung von Johann Anton Wilhelm von Carstenn in den Jahren 1870 bis 1874. Der Prager Platz ist Teil der berühmten Carstenn-Figur. Die regelmäßige städtebauliche Anlage wird durch den Fasanenplatz, den Nürnberger, Prager und Nikolsburger Platz gebildet. Die Plätze stellen die Eckpunkte der Figur dar. Der Prager Platz (bis 1888 noch Halberstädter Platz) ist entsprechend der anderen Plätze der Anlage als Repräsentations- und Schmuckplatz gestaltet. Er ist als Grünfläche mit Wohngebäuden umgeben. Die Wilmersdorfer Carstenn-Figur ist Teil einer großangelegten städtebaulichen Planung Carstenns. Sie rekuriert auf spätbarocke Achsenplanung, wie sie beispielsweise in Potsdam-Sanssouci angelegt wurde. Die städtebauliche Planung ist in Rudimenten bis heute im Stadtplan Berlins erhalten geblieben.

Mit der rasch wachsenden Bevölkerungszahl der Einwohner Berlins und der fortschreitenden Stadterweiterung wurde das Wilmersdorfer Gebiet auf Grundlage eines 1885 entwickelten Plans bebaut. Gemäß der baupolizeilichen Verordnung entstanden mehrgeschossige spätgründerzeitliche Wohnhäuser. Im Rahmen der baulichen Entwicklung wurden die Platzanlagen besonders hervorgehoben. Um den Prager Platz entstanden repräsentative „vornehm großstädtische Gebäude mit einem gärtnerisch angelegten und gepflegten Rondell […].“[STEIN 1913, S. 117]

Die Ausdehnung Berlins nach Westen und die Etablierung des Kurfürstendamms als Einkaufs- und Vergnügungszentrum verstärkten den Zuzug in das Gebiet. Seit 1913 wurde der Bereich um den Prager Platz zur erweiterten Innenstadtlage gerechnet, hinzu kamen die Anschlüsse mit elektrischer Straßenbahn und U-Bahn. Das Gebiet um den Prager Platz und östlich davon zeigte eine hohe Bebauungsdichte und stellte eines der beliebtesten Wohn- und Geschäftsbereiche dieser Zeit dar.

Späterer Teil der Platzrandbebauung, fertiggestellt 2002
Späterer Teil der Platzrandbebauung, fertiggestellt 2002

Die städtebauliche Entwicklung bis zum zweiten Weltkrieg demonstriert, dass der Prager Platz zu einem bedeutenden Berliner Stadtraum zählte. Durch die Kriegszerstörung verlor der Platz seine Attraktivität als Wohn- und Geschäftslage. Die vorrangige Lösung des Mangels an Wohnraum und Infrastruktur sah eine rasche Bebauung mit einfachen mehrgeschossigen Wohnhäusern vor.

Für das Gebiet um die Bundesallee (damals noch Kaiserallee) gab es weitreichende und konzeptionelle    Wiederaufbauplanungen. Die Überlegungen zum Wiederaufbau integrierten die Carstenn‘sche Straßenplanung, so dass die Anlage des Prager Platzes mit seinen Zufahrtsstraßen erhalten blieb. Darüber hinaus wurde das Gebiet stark umstrukturiert. Vor allem der Ausbau der Bundesallee zur Hauptverkehrsader hinterließ im Stadt- und Straßenbild deutliche Spuren. Bis Ende der 1970er Jahre blieb der Prager Platz ein Ort theoretischer Spielereien. Das reale Stadtbild zeigte hingegen deutliche Anzeichen von Verwahrlosung und Überforderung.

Erst das städtebauliche Gutachten im Vorfeld der IBA ‘87 entwickelte lösbare Szenarien für eine neue Platzgestaltung. Als Demonstrationsprojekt in der Reihe „Modelle für eine Stadt“ entwarfen Gottfried Böhm, Rob Krier und Carlo Aymonino Visionen eines auf historischen Grundlagen neu gedachten Stadtraums. Die modellhaften Untersuchungen 1976 bilden die Grundlagen für das theoretische Konzept der Kritischen Rekonstruktion, das bei der IBA ‘87 angewendet wurde. Hier wurden die Typologien und Begriffe entwickelt. Die Auseinandersetzungen von Böhm, Krier und Aymonino formulierten die Möglichkeiten, Stadträume auf Grundlage ihrer historischen Gestalt und ihrer traditionellen Ausbildung weiterzudenken. Am Prager Platz wird wie kaum anderswo in Berlin augenscheinlich, dass sich hinter dem Konzept Kritische Rekonstruktion mehr verbirgt, als das bloße Aufgreifen historischer Bauelemente.

Die Platzgestaltung und die Architektur hat das historische Platzgefüge in eine moderne Sprache übersetzt. Die geschichtliche Idee der Anlage wurde mit neuen Anforderungen an Nutzungen und Strukturen konfrontiert. Die Neuformulierung des historischen Typus „Platz“ beinhaltete gleichermaßen eine überarbeitung der in ihm zum Ausdruck gebrachten gesellschaftlichen Vorstellung. Aufgegriffen wurden historische Nutzungsbestimmungen: Wohnen, Handel, Dienstleistung, stadträumlicher Knotenpunkt und damit Begegnungs- und Interaktionsort. Revidiert wurden Repräsentationsansprüche und Hierarchisierung durch die unterschiedliche Gestaltung von Fassaden, Höfen und städtischen Räumen.

Diese Beobachtungen machen die Platzrandbebauung am Prager Platz zu einem erlebbaren Modell nicht nur für die Ansprüche der IBA ‘87. Die städtebauliche Konzeption ist signifikantes Abbild der Inhalte und Theorien des postmodernen Bauens selbst: nämlich die Übersetzung überlieferter Typologien in zeitgenössische Nutzungen und Architektursprache. Dazu gehört auch die unmissverständliche und notwendige Konfrontation historischer Überlieferungen mit gesellschaftlich überarbeiteten Anforderungen an Leben und Wohnen.

Künstlerische Bedeutung
Mit Gottfried Böhm, Rob Krier und Carlo Aymonino sind hier einige der namhaften Protagonisten des postmodernen Bauens vertreten. Die Aufnahme der historischen Platzstruktur zeigt sich in einer Übertragung der Gebäudeformen. Diese Übersetzungsleistung stellt einen lesbaren und architektonisch sowie künstlerisch wertvollen Beitrag für die Berliner Architektur dar. Besonders am Haus Prager Platz 4/5 wird dies erlebbar. Das von Gottfried Böhm geplante Wohn- und Geschäftshaus zitiert die Formen des bis Kriegsende dort stehenden Gebäude. Böhm greift die Fluchtlinien der alten Häuser auf und findet auch für die Eckbetonung eine am historischen Vorbild angelehnte Lösung.

Wohn- und Geschäftshaus Prager Platz 4/5, Gottfried Böhm, Zustand Juli 2012; Foto: Gunnar Klack
Wohn- und Geschäftshaus Prager Platz 4/5, Gottfried Böhm, Zustand Juli 2012; Foto: Gunnar Klack

Die Besonderheit der Architektur zeigt sich in der von Böhm als „Demokratisierung“ der Bauform und der Typologie bezeichneten Ausführung. Raumprogramm und Gestalt wurden durch die veränderten gesellschaftlichen Ansprüche revisioniert. Es entfällt eine Betonung der herrschaftlichen Wohnetage – der Beletage. Die Geschosshöhen, mit Ausnahme der Ladenzone im Erdgeschoss, sind gleich. Das Gebäude wird ebenerdig betreten. Böhm realisiert in diesem Gebäude einen eigenen Anspruch: das Erleben einer gesellschaftliche Veränderung durch das Erleben der Architektur. Damit stellt das Objekt Prager Platz 4/5 ebenso einen Höhepunkt im Schaffen des Architekten Böhm dar.

 Wohn- und Geschäftshaus Prager Straße 11/Motzstraße 90–94, Rob Krier, Zustand Juli 2012; Foto: Gunnar Klack
Wohn- und Geschäftshaus Prager Straße 11/Motzstraße 90–94, Rob Krier, Zustand Juli 2012; Foto: Gunnar Klack

Auch die anderen Beiträge verweisen auf die historischen Formen der verloren gegangenen Bebauung und interpretieren diese neu. Das Haus Prager Straße 11/Motzstraße 90–94 zitiert den neogotischen Vorgängerbau durch strebepfeilerartige Wandvorlagen. Der Architekt Krier entwickelte auf polygonalem Grundriss ein Eckhaus, das einen stadträumlichen Orientierungspunkt darstellt. Carlo Aymonino greift im Wohn- und Geschäftshaus Prager Platz 5 Formen gründerzeitlicher Staffelgiebel auf.

Wohn- und Geschäftshaus Aschaffenburger Straße/Prinzregentenstraße, Carlo Aymonino, Zustand Juli 2012; Foto: Gunnar Klack
Wohn- und Geschäftshaus Aschaffenburger Straße/Prinzregentenstraße, Carlo Aymonino, Zustand Juli 2012; Foto: Gunnar Klack

Die Neuformulierung historischer Bauformen verlangt einen sensiblen Umgang mit überkommenen und überlieferten Repräsentationsmustern. Die Bebauung am Prager Platz zeichnet sich durch eine gemeinsame Formensprache aus, die jeglicher Nachahmung von Repräsentation, Hierarchie und Herrschaftssymbolik entsagt. Es offenbart sich ein Gefüge aus individueller und wirkungsvoller Architektur, die durch ein ihr innewohnendes, gemeinsam getragenes Gestaltungskonzept getragen wird. Die selbständig für sich wirkenden Gebäude bilden im Stadtraum ein durchgestaltetes Ganzes. Keine der individuellen Bauleistungen beherrscht durch seinen künstlerischen Anspruch die anderen Gebäude oder gar den Stadtraum. In diesem Zusammenhang stellt das Ensemble eine Besonderheit und einen Höhepunkt innerhalb der Fülle der IBA ‘87 Projekte dar. Die späte Fertigstellung des Gebäudes Prager Platz 1–3 in den Formen der Böhm‘schen Planung tut der Gesamtwirkung des Platzes keinen Abbruch.

Wissenschaftliche Bedeutung
Im Rahmen der Berliner IBA 2020 unterliegen auch die Bauten der IBA’87 einer erneuten Revision. Ihre wissenschaftliche Aufarbeitung dient der Vorplanung neuer Bauaufgaben und der Strukturierung städtebaulicher Problemfelder. Die Projekte der Internationalen Bauausstellung 1987 sind darüber hinaus Gegenstand gegenwärtiger Untersuchungen und Dissertationen. Eine topografische Untersuchung erfolgt zur Zeit durch durch die Forschungsinitiative IBA (F-IBA). Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchungen werden im Jahr 2012 in der Ausstellung „Re-Vision IBA’87“ präsentiert und sind Gegenstand einer begleitenden Tagung.

Quellen und Literatur
• Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin (BA 5310; Wettbe- werbsunterlagen 4-Ag-6422; Bebauungsplan IX-155).

• O.A.: Engerer Wettbewerb Prager Platz, Berlin. Berlin 1981.

• O.A.: Engerer Wettbewerb Prager Platz, Berlin (Protokoll). Berlin 1981.

• Landesdenkmalamt Berlin (Denkmalkarte).

• Kleihues, Josef Paul (Hg.): Schriftenreihe zur Internationalen Bauaustellung 1984/87. Die Neubaugebiete. Dokumente, Projekte Band 6. Prager Platz. Berlin 1989

• Lampugnani, Vittorio Magnago (Hg.): Schriftenreihe zur Internationalen Bauaustellung 1984/87. Die Neubaugebiete. Band 1. Modelle für eine Stadt. Berlin 1984.

• Stein, Erwin: Monographien deutscher Städte. Bd. 4. Berlin-Wilmersdorf. Oldenburg 1913.