• Gebäudetyp: Wohnanlage mit Atelierturm
• Lage: Charlottenstraße 96–98, Berlin-Kreuzberg
• Bauzeit: 1986–88
• Architekt(en): John Hejduk, Moritz Müller mit Diethard Engel
• Gartenarchitekt(en): Hannelore Kossel
• Bauherr: Condex, Grundstücksverwaltungsgesellschaft mbH & Co. Charlottenstraße KG im Erbbaurecht des Landes Berlin
Demonstrationsziel und Planungsgeschichte
Der Entwurf John Hejduks für die Wohnanlage mit Atelierturm, der schließlich auf dem Grundstück Charlottenstraße 96–98, Block 11, innerhalb des Wettbewerbsgebietes „Kochstraße/ Friedrichstraße – Wohnen und Arbeiten in der Südlichen Friedrichstadt“, realisiert wurde, entwickelte sich aus dem Projekt „Berlin-Masque“, das John Hejduk 1981 für das Wettbewerbsgebiet „Wilhelmstraße“ formulierte. Für seinen Wettbewerbsbeitrag „Berlin-Masque“ für die Wilhelmstraße erhielt John Hejduk einen Spezialpreis.
In Anlehnung an die Masken des venezianischen Karnevals, die wie Hejduk in Erinnerung ruft von einer höchst pragmatischen Stadt wie dem Venedig des 15. Jahrhunderts benötigt wurde um zu funktionieren, war es John Hejduks Auffassung nach nun an der Zeit Masken für unsere Zeit zu entwerfen.
„For as it was necessary for the highly rational-pragmatic city of 15th century
Venice to create masques, masks, masses for its time
in order to function,
it would appear that we of our time
must create masques (programs???) for our time.“
[John Hejduk, 1981, veröffentlicht im Architectural Design Profile, 1984.]
Die „Berlin-Masque“ versteht Hejduk als eine zeitgenössische Maske mit Strukturen [„»a contemporary masque« with structures“, John Hejduk e.d.]. Sie besteht aus 28 Elementen, die die auf dem Wettbewerbsgebiet Wilhelmstraße befindlichen Bauten ergänzen. Er definiert zwei Bereiche, die von 12′-0″ hohen Hecken umgeben wurden.
Die einzelnen Elemente erfüllen Aufgaben ähnlich der Masken im venezianischen Karneval, z.B. der Aussichts-Turm, die Gast-Türme, die Lotteriefrau. Sie setzen sich meist aus klaren geometrischen Formen zusammen, die in Assoziation an Baumerkmale, wie bestimmte Konstruktionsformen oder Materialien, aber auch an Naturelemente oder/und Holzskulpturen von Picasso zusammengesetzt und entwickelt wurden.
Die schließlich umgesetzte Wohnbebauung mit Atelierturm entstand in Zusammenarbeit mit dem Berliner Architekten Moritz Müller. Hierbei wurden neben Entwurfselementen aus der „Berlin-Masque“ auch frühere Ideen-/Entwurfsstudien Hejduks wie die 13 Türme von Cannaregio von 1979 aufgenommen [„the thirteen towers of Cannaregio“, 1979]. Vgl. auch den nächsten Abschnitt.
Als Demonstrationsziel lag dem Entwurf die städtebauliche und architektonische Neuordnung des Südrandes des Blockes und die Formulierung des Straßenraumes zu Grunde. Hierfür sollten architektonisch ausgeprägte Gebäudetypen geschaffen werden, die unterschiedliche Wohnformen ermöglichen. In Zusammenarbeit mit Moritz Müller wurde am 10.08.1984 eine Bauvoranfrage beim Bau- und Wohnungsaufsichtsamt Kreuzberg eingereicht. Als Bauherr trat zu diesem Zeitpunkt noch die IBA auf, später dann Condex. Am 11.7.1985 konnte schließlich der Bauantrag eingereicht werden. Eine Baugenehmigung folgte jedoch erst am 19.12.1986. Im Sommer 1988 war die Wohnanlage mit Atelierturm fertiggestellt.
Städtebauliche und/oder architektonische Lösung zur Erreichung des Demonstrationszieles
Während es entlang der Friedrichstraße und der Charlottenstraße darum ging den Stadtraum durch eine Schließung des Blocks wiederherzustellen, sah die IBA-Planung für den Bereich des Blumengroßmarktes und der nördlich davon verlaufenden Besselstraße (Block 606) eine komplette Neustrukturierung des Blockes vor. Dies bedeutete u.a., dass die Besselstraße nach Norden verlegt werden sollte, um die Flucht der Puttkamerstraße aufzunehmen.
John Hejduk ging bei der Ausrichtung und Anordnung seiner Wohnanlage mit Atelierturm von diesen Planungen aus und sah deshalb nach Osten eine Fortsetzung der Baukanten entlang der Charlottenstraße vor, während der Block nach Süden nicht geschlossen wurde um eine Verbindung zum geplanten Besselpark herzustellen. Der 14-geschossige Atelierturm sollte dem Quartier an dieser Stelle eine neue städtebauliche Identität geben. Nach Norden nehmen die Gebäude die Struktur der vorhanden Bebauung mit Gewerbebauten aus der Gründerzeit auf. Die Wohnzeile entlang der Charlottenstraße schließt an das Vorderhaus an, während die zweite Wohnzeile an das zweite Quergebäude anschließt und der Turm die Fluchten des 1. Quergebäudes aufnimmt.
Neben den städtebaulichen überlegungen wurden für die architektonische Gestaltung wie bereits erwähnt Ideen Hejduks wie die der 13 Türme von Cannaregio und der „Berlin-Masque“ aufgenommen. Vgl. beispielsweise Nr. 7 „guest towers“, Nr. 15 „masque“ und Nr. 27 „wall hung units“. Der Vorentwurf sah für den Turm einen zentralen Baukörper auf quadratischem Grundriss vor, der durch vier kleinere Türme ergänzt werden sollte. Hiervon waren jeweils östlich und westlich einer auf quadratischem Grundriss, sowie nördlich zwei weitere auf der Grundform eines Kreises und eines Dreiecks vorgesehen. Die Fassaden sollten eine Rasterung durch die Verkleidung mit quadratischen Fliesen oder Platten erhalten. Die Fenster erhielten überdachungen aus Stahl, sowie am Hauptturm passende Austrittsboxen.
Für die Wohnzeilen war die Bildung charakteristischer, maskenhafter Giebelseiten anhand der Ausbildung der Dächer und der Verwendung der überdachungen und Austrittsboxen aus Stahl prägend. Entsprechend der Gestaltung des Atelierturmes sollten auch hier die Fassaden zunächst eine Rasterung durch die Verkleidung mit hochrechteckigen Platten erhalten. Geplant war darüber hinaus eine Ergänzung der Baukörper durch zwei Skulpturen, die zur Benutzung als Spielgeräte vorgesehen waren, südlich rechts und links vor dem Turm.
Neben der nicht durchgeführten Neustrukturierung des südlich anschließenden Blocks und der daher ausbleibende Verlegung der Besselstraße, sowie der Herstellung der vorgesehenen Erschließung vom Straßenland, kam es auch bei der architektonischen Umsetzung zu gewissen änderungen und Anpassungen des Vorentwurfs: Die Fassaden wurden nicht mit Platten verkleidet, sondern erhielten eine verputzte und gestrichene Oberfläche, wobei die Ost- und Westfassaden der Wohnzeilen in regelmäßigen Abständen stern- oder blumenförmige „Ankerpunkte“ aufweisen; nur die Südfenster erhielten die charakteristischen überdachungen und Austrittsboxen, der Turm für den Aufzug des Atelierturms wurde nicht auf dreieckigem sondern auf rechteckigem Grundriss errichtet; die bei der IBA-Ausstellung 1984 gezeigten Skulpturen, die als Spielgeräte vorgesehen waren, wurden schließlich nicht aufgestellt.
Dem Anspruch verschiedene Wohnformen zu ermöglichen wurde durch die Bereitstellung von unterschiedlichen Wohnungstypen und -größen Rechnung getragen. So entstanden Maisonette-Atelier- Wohnungen, 1,5-Zimmer-, 2-Zimmer-, 3-Zimmer- 3,5-Zimmer- und 4-Zimmer-Wohnungen, wobei die Maisonette-Atelier-Wohnungen in 3-Zimmer-Wohnungen umgewandelt werden können und die Wohnungen im Dachgeschoss offene Grundrisse aufweisen.
Baubeschreibung ursprünglich/heute
Die Wohnanlage besteht aus zwei ost-west-orientierten Wohnzeilen mit vier Vollgeschossen und ausgebautem Dachgeschoss, die direkt an die bestehende nördliche Bebauung anschließen und die Traufhöhen dieser aufnehmen, und einem dazwischen befindlichen vierzehngeschossigem Wohn- und Atelierturm, der sich ebenfalls an den Fluchten des bestehenden Altbaus orientiert jedoch nicht direkt an dessen Brandwand anschließt.
Die östliche Wohnzeile entlang der Straße weist nach Osten, Westen und Süden Lochfassaden auf, die geprägt werden durch die großen, unterteilten sowie farbig abgesetzten Fenster nach Osten und Westen, die vier durch überdachungen und „Austrittsboxen“ akzentuierten Fenster nach Süden und die Ausbildung des Daches mit nach innen geneigten Dachflächen, die nach Osten und Westen eine sehr hohe, massive Attika und nach Süden eine expressive, charakteristische Giebelfassade zur Folge haben. Die Erschließung erfolgt über zwei zur Straße liegende Treppenhäuser mit Aufzug, von denen aus je Geschoss jeweils zwei 4-Zimmer-Wohnungen bzw. im Dachgeschoss je zwei „durchwohnbare“ Wohnungen erreicht werden. Die westliche Wohnzeile weist dieselbe charakteristische Südfassade und Dachform auf und die Ostfassade entspricht weitgehend der Westfassade der östlichen Wohnzeile. Die Westfassade und die Wohnungsgrundrisse unterscheiden sich jedoch deutlich. So wird diese Wohnzeile über ein zentrales Treppenhaus mit Aufzug und daran anschließende verglaste Laubengänge erschlossen.
In den vier Vollgeschossen befinden sich insgesamt vierundzwanzig 1,5- bis 3-Zimmer-Wohnungen und im ausgebauten Dachgeschoss vier weitere Wohnungen. Der Wohn- und Atelierturm setzt sich zusammen aus einem Hauptturm auf quadratischer Grundform. Daran schließt nach Norden ein Verbindungsbaukörper an über den die Erschließungstürme in Form eines zylindrischen Treppenturms und eines quaderförmigen Aufzugsturms erreicht werden. Seitlich nach Osten und Westen befinden sich kleinere, quaderförmige Nebentürme in denen die Bäder, Küchen und Abstellräume untergebracht sind. Die sieben Maisonette-Atelier-Wohnungen waren ursprünglich für Auslandsstipendiaten des DAAD (Deutscher Akademischer Auslandsdienst) gedacht.
Alle drei Gebäude erhielten wegen des Baugrundes eine Pfahlgründung. Sie wurden in Massivbauweise mit Stahlbetondecken konstruiert und anschließend wärmegedämmt, verputzt und gestrichen. Südlich vor dem Wohn- und Atelierturm befindet sich unterirdisch eine Tiefgarage mit 16 Stellplätzen.
Der Bereich um den Atelierturm wird durch den Architekten als halb-öffentlich definiert. Südlich vor dem Turm war geplant zwei „Architekturspielobjekte“ Hejduks aufzustellen, vgl. Abb. Vorentwurf , als Bereicherung der Aufenthaltsfläche für Erwachsene und Kinder und gleichzeitig als ein Tor für Besucher des Turmes. Die Grünflächen entlang der Wohnzeilen und unmittelbar vor dem Turm sind als private Gartenflächen für die Erdgeschosswohnungen vorgesehen. Die Wohnzeilen werden seit 2010 instandgesetzt. Augenscheinlich und den Bauakten zufolge sind vorher keine baulichen Veränderungen vorgenommen worden. Da die städtebauliche Planung für das südlich angrenzende Areal, die dem Entwurf zu Grunde lag, nicht umgesetzt wurde, fehlt eine Anbindung an den Straßenraum. Die gewünschte Formulierung des Stadtraumes bleibt somit am südlichen Rand des Blockes aus.